I. Einleitung
Der VI. Zivilsenat des BGH hat mit seinen Beschlüssen vom 19.5.2020 und 6.7.2020 nunmehr einen in Rechtsprechung und Literatur bereits seit mehreren Jahren geführten Grundsatzstreit hinsichtlich der Zulässigkeit von Beweisfragen zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht als „Vorfrage“ im selbstständigen Arzthaftungsbeweisverfahren1 entschieden. Der BGH hat sich hierbei mit aller Deutlichkeit und zutreffender Begründung für die Zulässigkeit solcher Beweisfragen ausgesprochen. In seiner Begründung stellt der BGH insbesondere klar, dass (einerseits) die Zweckmäßigkeit und (andererseits) die Zulässigkeit eines selbstständigen Beweisverfahrens strikt voneinander zu trennen sind. Denn während die Beurteilung der Zweckmäßigkeit ausschließlich der Antragstellerpartei obliegt, hat das Gericht lediglich über die Zulässigkeit der vorgenannten Verfahrensart zu entscheiden.
Das selbstständige Beweisverfahren fand in der arzthaftungsrechtlichen Praxis zuerst im Jahr 2003, ausgehend von der Entscheidung des BGH vom 21.1.2003,2 einige (wenige) Anhänger. Während zunächst dennoch meist nur zahnärztliche Behandlungsfehlerfragen Gegenstand des selbstständigen Beweisverfahrens waren, wurde das selbstständige Beweisverfahren in arzthaftungsrechtlichen Schadensfällen erst zehn Jahre später, im Jahr 2013, vom BGH weiter gestärkt. In seiner richtungsweisenden Grundsatzentscheidung vom 24.9.20133 weitete der BGH den Anwendungsbereich der §§ 485 Abs. 2, 487 ZPO aus, indem er auch den groben Behandlungsfehler als Beweisthema im Rahmen eines selbstständigen Beweisverfahrens zuließ, obwohl es sich hierbei – ebenso wie die Aufklärungsfehlerfrage – letztlich um eine Rechtsfrage bzw. „wertungsausfüllungsbedürftige“ Tatsache handelt. In der Folge erachteten ab dem Jahr 2016 (neben zahlreichen Landgerichten4 auch) einige Oberlandesgerichte Beweisfragen zur ärztlichen Aufklärungspflicht im selbstständigen Arzthaftungsbeweisverfahren für zulässig.5
Gleichwohl war die Frage der Zulässigkeit von Aufklärungsfehlerfragen im selbstständigen Beweisverfahren (nach wie vor) bis ins Jahr 2020 höchst strittig, weil nicht nur mehrere OLG,6 sondern auch gewichtige Stimmen in der Literatur7 sich gegen die Ausweitung des Anwendungsbereichs eines OH-Verfahrens auf ärztliche Aufklärungsfehler aussprachen. Im Ergebnis herrschte bis dato eine völlig unterschiedliche8 Rechtsanwendungspraxis,9 die teilweise dazu führte, dass verschiedene Kammern ein und desselben LG unterschiedliche OH-Entscheidungen10 trafen. Der BGH dürfte mit seinen Beschlüssen vom 19.5.2020 und 6.7.2020 nunmehr eine einheitliche Rechtsprechung geschaffen haben, da er klarstellte, dass das selbstständige Beweisfragen grundsätzlich für alle Haftungsfragen im Medizinschadensrecht zulässig ist.11 So ließen aktuell das OLG Rostock12 und das LG Bonn mit Beschluss vom 29.4.202013 im selbstständigen Beweisverfahren nicht nur Fragen zu ärztlichen Aufklärungsinhalten, sondern sogar auch Fragen zur Aufklärungsdokumentation bzw. zu Lücken und Auslassungen der ärztlichen Dokumentation (insgesamt) zu; etwa ein Jahr zuvor bestätigte bereits das OLG Köln mit Beschluss vom 15.5.201914 die Zulässigkeit von OH-Beweisfragen (sogar) zu etwaigen Dokumentationsmängeln.
II. Sachverhalt und Verfahrensgang
Der Patient leitete in dem (dem BGH-Beschluss vom 19.5.2020 zugrunde liegenden) Fall15 gegen das ihn behandelnde Klinikum mit Antrag vom 5.2.2016 ein selbstständiges Beweisverfahren ein und begehrte die Feststellung von gerügten Aufklärungs- und Behandlungsfehlern anlässlich seiner Behandlung im Zeitraum Juli 2013 bis September 2013 durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens, wobei insbesondere die Beweisfragen 13 b und 13 d ärztliche Aufklärungspflichten betrafen, vgl.:
Teilfrage 13 b: „Ob und inwieweit hätte nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen über die in Beweisfrage 13 a16 genannten Risiken, sowie über die bei der Antragstellerpartei aufgrund der streitgegenständlichen Behandlung sonstigen eingetretenen Risiken/Komplikationen/Gesundheitsfolgen (vgl. Beweisfrage 1) aus medizinischer Sicht aufgeklärt werden müssen? (Das Gericht möge nach eigenem Ermessen folgende Erläuterung für den Sachverständigen (zur Beweisfrage 13 b) hinzufügen: „Die Risikoaufklärung muss dem Patienten einen Überblick über die mit dem Eingriff verbundenen Gefahren verschaffen. Damit sind dauerhafte oder vorübergehende nachteilige Folgen eines Eingriffs gemeint, die sich auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht mit Gewissheit ausschließen lassen. Ferner ist der Patient mit Art und Schwere des Eingriffs vertraut zu machen. Dabei genügt es, wenn dem Patienten ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des konkreten Risikospektrums und ihm die ,Stoßrichtung‘ der möglichen Risiken vermittelt wird ... Dabei hat der Arzt den Patienten auch über seltene, sogar äußerst seltene Risiken mit einer Komplikationsdichte von weniger als 1 %, ja sogar bei weniger als 0,1 % aufzuklären, wenn deren Realisierung die Lebensführung des Patienten schwer belasten würde und das entsprechende Risiko trotz der Seltenheit für den Eingriff spezifisch, für den Laien aber überraschend ist ...“).“
Teilfrage 13 d: „Ob und inwieweit stellen – nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen – aus medizinischer Sicht die in Beweisfrage 13 c17 aufgeführten Behandlungsmöglichkeiten sog. „echte Behandlungsalternativen“ dar, über die die Patientenseite (Antragstellerpartei) hier hätte aufgeklärt werden müssen? (Das Gericht möge nach eigenem Ermessen folgende Erläuterung für den Sachverständigen zu Beweisfrage 13 d hinzufügen: „Bei der Frage, ob eine sog. echte Behandlungsalternative vorliegt, ist von folgenden rechtlichen Grundsätzen auszugehen: Die Wahl der Behandlungsmethode ist primär Sache des Arztes. Er muss dem Patienten daher im Allgemeinen nicht ungefragt erläutern, welche Behandlungsmethoden theoretisch in Betracht kommen und was für und gegen die eine oder andere dieser Methoden spricht, solange er eine Therapie anwendet, die dem medizinischen Standard genügt. Wählt der Arzt eine medizinisch indizierte, standardgemäße Behandlungsmethode, bedarf es der Aufklärung über eine anderweitige, gleichfalls medizinisch indizierte, übliche Methode dann nicht, wenn die gewählte standardgemäße Therapie hinsichtlich ihrer Heilungsaussichten einerseits und ihrer Belastungen und Risiken für den Patienten andererseits der Behandlungsalternative gleichwertig oder vorzuziehen ist. Eine Aufklärung kann aber dann erforderlich werden, wenn die Behandlungsalternativen zu jeweils wesentlich unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder wesentlich unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten. Es muss sich dabei um einen Unterschied von Gewicht handeln, nicht nur um eine geringfügig niedrigere Komplikationsrate ... Demgegenüber soll über einzelne Behandlungsschritte und Behandlungstechniken eine Aufklärung nicht erforderlich sein.“).“
Das LG wies die Beweisfragen im Ausgangsbeschluss mit der Begründung als unzulässig zurück, dass die Beweisfragen nicht unter § 485 Abs. 2 ZPO zu subsumieren seien. Das OLG half der Beschwerde nicht ab und ließ sodann wegen der Teilfragen zu 13 b und d die Rechtsbeschwerde zum BGH zu.
III. Die beiden Entscheidungen des BGH
Im Rahmen seiner hier besprochenen Entscheidungen vom 19.5.2020 und 6.7.2020 hob der BGH die vom Antragsteller mit der Rechtsbeschwerde angefochtenen Beschlüsse des OLG Karlsruhe vom
8.7.201918 und 5.4.201919 auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht. Der BGH bestätigte hierbei ausdrücklich die Zulässigkeit von Beweisfragen zum
ärztlichen Aufklärungsfehler im selbstständigen Arzthaftungsbeweisverfahren und führte damit eine lang ersehnte höchstrichterliche Klärung der strittigen Rechtsfrage20 herbei. Die
Erwägungen, mit denen das OLG Karlsruhe als Beschwerdegericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens im selbstständigen Beweisverfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO hinsichtlich der
auf die Feststellung des Inhalts und Umfangs der ärztlichen Aufklärungspflicht im Rahmen der streitgegenständlichen Behandlung des Antragstellers abzielenden Beweisfragen abgelehnt hat, halten
einer rechtlichen Überprüfung – so der BGH – nicht stand.
1. § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO: Aufklärungsfehler als Ursache eines Personenschadens
Der BGH stellt zunächst zutreffend klar, dass Beweisfragen an den medizinischen Sachverständigen zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht als tauglicher Gegenstand eines selbstständigen Beweisverfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO durchaus in Betracht kommen, da diese die Ursache21 eines Personenschadens22 betreffen und daher sehr wohl der in § 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO genannten Fallgruppe zugeordnet werden können. Denn laut BGH seien Aufklärungsfehler ebenso wie Behandlungsfehler im haftungsrechtlichen Sinne die Ursache eines Personenschadens. Zwar könne der medizinische Sachverständige – so der BGH in seiner Begründung zutreffend – im Rahmen des selbstständigen Beweisverfahrens in der Regel weder eine abschließende Klärung dahin gehend herbeiführen, ob ein Aufklärungsfehler vorliegt, noch, ob dieser für den geltend gemachten Personenschaden kausal geworden sei. Denn zum einen sei insoweit nach § 630e Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB das mündliche Aufklärungsgespräch maßgeblich, welches durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht überprüfbar sei. Zum anderen handele es sich bei der Beurteilung, ob die geschuldete ärztliche Aufklärung ordnungsgemäß erfolgt sei, um eine juristische Wertung, die freilich nicht dem Sachverständigen, sondern vielmehr ausschließlich dem erkennenden Gericht des sich ggf. anschließenden Hauptsacheverfahrens obliege. Entscheidend sei aber – und dies betont der BGH ausdrücklich – dass diese Erwägungen nichts daran ändern, dass es für die Feststellung der Aufklärungsanforderungen im konkreten Fall grundsätzlich einer vorherigen Beurteilung durch einen medizinischen Sachverständigen bedürfe, was insbesondere für die konkreten – aufklärungspflichtigen – Behandlungsrisiken und – alternativen gelte. Dies begründet der BGH damit, dass sich Umfang und Intensität der ärztlichen Aufklärung gerade nicht abstrakt festlegen ließen. Vielmehr sei eine patientenbezogene Aufklärung maßgeblich, die sich an der konkreten medizinischen Behandlung sowie am konkreten Patienten orientiere, weshalb immer auch weichenstellende medizinische Vorfragen (sachverständig) zu klären seien.
2. § 485 Abs. 2 S. 2 ZPO: Feststellung des Umfangs der Aufklärungspflicht als rechtliches Interesse
Das Vorliegen des erforderlichen rechtlichen Interesses nach § 485 Abs. 2 S. 2 ZPO scheitert – entgegen der etwa von Laumen23 vertretenen Rechtsauffassung – auch nicht daran, dass es sich bei Beweisfragen zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht im Arzthaftungsbeweisverfahren um eine bloße „Vorfrage“ für die Feststellung einer Haftung wegen Aufklärungsfehlern handelt. Laut Schreiber sei der Begriff des rechtlichen Interesses nach herrschender Ansicht weit zu fassen oder sogar grundsätzlich zu bejahen.24 Unter Verweis auf seine Senatsbeschlüsse vom 24.9.201325 und 21.1.200326 stellt der BGH auch im Rahmen seiner aktuellen Entscheidung vom 19.5.2020 ausdrücklich klar, dass ein rechtliches Interesse der Antragstellerpartei nach § 485 Abs. 2 S. 2 ZPO selbst dann bestehe, wenn möglicherweise eine abschließende Klärung27 durch das im selbstständigen Beweisverfahren einzuholende Sachverständigengutachten nicht möglich ist und weitere Aufklärungen erforderlich erscheinen. Denn erst anhand des medizinischen Sachverständigengutachtens könne der Tatrichter überprüfen, ob in Anbetracht des vom Sachverständigen dargestellten erforderlichen Umfangs der Aufklärung eine unzureichende oder ausreichende ärztliche Aufklärung erfolgt ist. Es bedarf insofern denklogischerweise zunächst einer gutachterlichen Bewertung in medizinischer Hinsicht, damit die gutachterliche Bewertung in juristischer Hinsicht überhaupt erfolgen kann. Die Feststellung medizinischer Tatsachen bzw. Umstände ist damit eine „konkrete“ und auch notwendige Vorfrage für die richterliche Bewertung, ob eine aufgrund einer mangelhaften Aufklärung unwirksame Einwilligung des Patienten ursächlich für dessen Gesundheitsschaden geworden ist.28
In diesem Sinne führt der BGH weiter aus, dass nicht nur der Richter auf die Feststellung des Sachverständigen zu dem aus medizinischer Sicht erforderlichen Inhalt der ärztlichen Aufklärung angewiesen ist. Ganz im Sinne des Normzwecks des § 485 Abs. 2 ZPO hebt der VI. Zivilsenat in seiner Entscheidung hervor, dass es selbstverständlich in erster Linie die Parteien des Rechtsstreits sind, die das Sachverständigengutachten als Entscheidungshilfe dafür benötigen, ob Ansprüche (auch) wegen Aufklärungsfehlern weiterverfolgt werden (oder nicht) oder ob eine vergleichsweise außergerichtliche Regelung in Betracht kommt (oder nicht).29 Damit ist der letztlich an Intention und Gesetzestext des § 485 Abs. 2 ZPO vielfach vorbeigehenden gerichtlichen Praxis, Beweisfragen hinsichtlich der Aufklärung mit pauschalem Verweis auf eine im Hauptsacheverfahren möglicherweise notwendig werdende Zeugen- und Urkundenbeweiserhebung als unzulässig abzulehnen30, ein Riegel vorgeschoben worden. Denn es geht im selbstständigen Beweisverfahren nicht – wie der BGH nun in aller Deutlichkeit klargestellt hat – darum, mit dem Sachverständigengutachten eine vollständige Entscheidungsgrundlage für den Tatrichter in einem womöglich später stattfindenden Hauptsacheverfahren zu schaffen, sondern darum, die Parteien in die Lage zu versetzen, anhand der sachverständigen Feststellungen über ihr weiteres Vorgehen zu entscheiden und so einen Prozess ggf. zu vermeiden. Entscheidend ist somit auch nach Ansicht des BGH nicht die objektive Sicht des Richters und dessen Befugnis zur Aufklärung des streiterheblichen Arzthaftungssachverhalts, sondern allein die jeweilige Sicht und Einschätzung der Parteien.31
In diesem Sinne besteht nach überzeugender Ansicht des BGH ein rechtliches Interesse an der Klärung medizinischer Fragen bereits immer dann, wenn sie auch nur abstrakt geeignet sind, die Parteien möglicherweise zu einer raschen und vor allem kostensparenden Einigung zu bringen. Der VI. Zivilsenat hebt in diesem Zusammenhang auch den prozessökonomischen Vorteil einer gleichzeitigen Klärung des medizinischen Sachverhalts sowohl im Hinblick auf Behandlungsfehler als auch im Hinblick auf den Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht hervor und lässt damit einfließen, dass für das selbstständige Beweisverfahren sehr wohl auch Aspekte der Prozessökonomie zu berücksichtigen sind.32 Dieser Überlegung ist insbesondere hinsichtlich prozesstaktischer Überlegungen vollkommen zuzustimmen.33
Völlig richtig betont der BGH sodann gewissermaßen abschließend, dass die Frage der Zweckmäßigkeit eines selbstständigen Beweisverfahrens keinesfalls mit der Frage seiner Zulässigkeit verwechselt werden dürfe. Dieser eigentlich bereits nach Gesetzeslage eindeutige Grundsatz (§ 485 ZPO spricht nicht von „Zweckmäßigkeit“) wurde von der land- und oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung in der Vergangenheit dennoch immer wieder missverstanden. Ein selbstständiges Beweisverfahren und dessen Beweisfragen sind und bleiben nach dem Gesetz auch dann vollständig rechtlich zulässig, wenn diese Fragen aus Sicht des Richters (warum auch immer) nicht zweckmäßig erscheinen. Denn letztlich muss allein der antragstellende Patient selbst entscheiden, ob er das Risiko einer Begutachtung auf womöglich ungesicherter Tatsachengrundlage eingehen will.34 Ob das Vorgehen der Antragstellerpartei im konkreten Fall zweckmäßig ist, betrifft insofern nicht die Frage der Zulässigkeit ihres Antrags, sondern liegt allein in der eigenen Verantwortung des Antragstellers.35 Es ist insofern zu begrüßen, dass Landgerichte und OLG in arzthaftungsrechtlichen OH-Verfahren nun endlich auch höchstrichterlich dazu angehalten sind, ihre mancherorts bisher eher verfahrenshindernde Praxis36 aufzugeben, und stattdessen durch Zulassung aller Beweisfragen im OH-Verfahren auf eine gütliche Einigung oder sonstige Erledigung hinzuwirken, eben ohne, dass sie sich überhaupt mit der Erheblichkeit des Vorbringens befassen müssen.
3. Zu den Substantiierungsanforderungen hinsichtlich der Formulierung der medizinischen Beweisfragen
Wie der BGH noch einmal hervorhebt, bestimmt allein der Antragsteller in eigener Verantwortung durch seinen Beweisantragsschriftsatz – bestehend aus der Antragsbegründung inklusive der formulierten Beweisfragen einerseits und der Antragsbegründung andererseits – den Gegenstand der Beweisaufnahme.37 Die diesbezüglich durch den BGH in seinem Beschluss vermeintlich geschaffene „Hürde“, dass die gestellten Beweisfragen die Tatsachen, über die Beweis erhoben werden soll, i.S.d. § 487 Nr. 2 ZPO bezeichnen und einen hinreichenden Bezug zu dem bei dem Streitfall zugrunde liegenden Sachverhalt aufweisen müssen, darf hierbei freilich nicht überbewertet werden. Zunächst einmal ist die Aussage des BGH in einen Kontext zu einer seiner früher ergangenen und von ihm im hiesigen Beschluss zitierten Entscheidung zu setzen. Die Ausführungen des BGH zu den Konkretisierungsanforderungen der Beweisfragen stützen sich nämlich ersichtlich auf seinen Beschluss vom 10.11.2015,38 dem ein selbstständiges Beweisverfahren mit 374 (sic) Beweisfragen zugrunde lag, von denen mindestens 121 Beweisfragen vom Beschwerdegericht (völlig zu Recht) als „unzulässige Ausforschung“ zurückgewiesen wurden. Dass es sich hierbei unzweifelhaft um einen Extremfall handelte, in dem der Antragsteller lediglich formelhafte und pauschale Tatsachenbehauptungen aufstellte, und zwar ohne diese zu dem zugrunde liegenden Sachverhalt in irgendeinen Bezug zu setzen, mag niemand bestreiten können und bietet insofern keinen Raum für Verallgemeinerungen.39
So sehr klar sein dürfte, dass ein solches Vorgehen, durch welches im Ergebnis der für einen Arzthaftungsprozess maßgebliche Sachverhalt der Krankengeschichte überhaupt erst ermittelt werden sollte, nicht von §§ 485 Abs. 2, 487 Nr. 2 ZPO gedeckt ist, so sollte dieser Einzelfall jedoch nicht dazu verleiten, die Anforderungen an die Substantiierungspflichten des Antragstellers im selbstständigen Beweisverfahren zu überspannen. Denn im medizinschadensrechtlichen OH-Verfahren dürfen letztlich nicht strengere Substantiierungsanforderungen für den Patienten gelten als im Klageverfahren40 selbst.41
In diesem Licht sind auch die vom BGH nun aufgestellten Anforderungen an die Formulierung der Beweisfragen zu betrachten, so aktuell das OLG Rostock42. Ebenso wie die Klageschrift (vgl. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) setzt sich die Antragsschrift im selbstständigen Beweisverfahren aus Beweisanträgen und Antragsbegründung zusammen. Letztlich muss in diesem Sinne ausreichen, dass der Antragsschriftsatz (in seiner Begründung), jedoch nicht die Beweisfragen selbst, die Tatsachen bezeichnet, über die Beweis erhoben werden soll.43 Auch das Gesetz selbst spricht im Übrigen in § 487 Nr. 2 ZPO nicht von „Beweisfragen“, geschweige denn von „konkreten Beweisfragen“. Insofern gilt: Je eindeutiger sich der Sachverhalt, in den die Beweisfragen eingebettet sind, aus der Antragsbegründung des Beweisantragsschriftsatzes ergibt, desto geringer sind die Substantiierungsanforderungen an die Formulierung der Beweisfragen und umgekehrt.
Im Antrag ist gem. § 487 ZPO also lediglich die Tatsache zu benennen, über die Beweis erhoben werden soll. Diese Regelung dient dazu, dem Gericht die Formulierung des Beweisbeschlusses gem. § 359 Nr. 1 ZPO zu erleichtern. Welche Anforderungen an die Bezeichnung des Beweisthemas zu stellen sind, ist noch nicht genau geklärt44. Unzulässig dürfte der Antrag (nur) sein, wenn der Antragsteller damit ohne konkrete Anhaltspunkte rein ausforschend die tatsächlichen Grundlagen für einen Anspruch ermitteln lassen möchte.45 Es genügt jedoch, wenn die Symptome eines möglichen Fehlers als Anknüpfungspunkt benannt werden und Beweis über die Ursache erhoben werden soll. Die Beweisbehauptungen müssen lediglich so aufgestellt werden, dass der zu bestellende Sachverständige weiß, zu welchen behaupteten Tatsachen er Antworten geben soll. Schreiber46 weist zutreffend darauf hin, dass sich aus dem besonderen Charakter des selbstständigen Beweisverfahrens und den mit ihm verfolgten Zwecken andere, niedrigere Anforderungen an die Darlegungslast ergeben würden. Ob ihnen genügt wurde, sei durch Heranziehung des gesamten Parteivortrags zu ermitteln; so vorzugehen sei auch deshalb gerechtfertigt, weil der Antragsteller allein das Risiko des Verfahrens trägt; eine streitige Entscheidung, die den Gegner belasten könnte, erfolge im selbstständigen Beweisverfahren gerade nicht.
Zudem können OH-Beweisfragen grds. auch auf weitere Beweisthemen in der Antragsbegründung (ergänzend) verweisen, so nun auch das OLG Rostock47; jedenfalls bei hinreichend konkreter Darstellung des Haftungsgrundes in der Antragsbegründung ist eine Verweisung der Beweisfragen auf die Antragsbegründung insofern zulässig und wird auch vom Großteil der obergerichtlichen Rechtsprechung als ausreichend anerkannt.48 Dies scheint letztlich auch der BGH so zu sehen, wenn er postuliert, dass die Beweisfragen lediglich einen „hinreichenden Bezug“ zu dem beim Streitfall zugrunde liegenden Sachverhalt aufweisen müssen.
Zudem lässt die nun höchstrichterliche Zulassung zweier Beweisfragen im vorliegenden Beschluss, die dem Sachverständigen bereits durch ihre Wortwahl („ob“ anstelle von „dass“) einen gewissen Spielraum hinsichtlich der zu treffenden Feststellungen lassen, darauf schließen, dass der BGH einer gewissen medizinischen „Ausforschung“ durch die Beweisfragen nicht grundsätzlich entgegen treten möchte.49 Dies allein scheint auch aus Sicht der Verfasser geeignet, das Ziel des selbstständigen Beweisverfahrens, mittels umfassender Abschöpfung der Beweisfragen sowohl eine hinreichende Grundlage für eine später ggf. notwendig werdende juristische Bewertung der medizinischen Feststellungen durch den Tatrichter, aber vor allem eine Entscheidungshilfe für das weitere Vorgehen der Parteien zu schaffen, zu erreichen.
Insofern ist es konsequenterweise nach Ansicht des BGH auch nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller es in das Ermessen des Gerichts stellt, dem Sachverständigen bestimmte, vom Antragsteller bereits formulierte Erläuterungen zur Konkretisierung der vom Antragsteller erbetenen Feststellungen mit an die Hand zu geben, wodurch das Gericht letztlich nur seiner gem. § 492 Abs. 1 ZPO auch im OH-Verfahren geltenden Pflicht der Leitung der Sachverständigentätigkeit (§ 404a ZPO) nachkommt.
Der BGH betont in diesem Zusammenhang auch, dass es dem Gericht frei stehe, innerhalb der Grenzen des vom Antragsteller vorgegebenen Beweisthemas unklare oder missverständliche Formulierungen des Antragstellers im Beweisbeschluss klarzustellen oder die vom Antragsteller formulierten Beweisfragen aufgrund von Ausführungen des Antragstellers in seiner Begründung zu konkretisieren oder zu ergänzen.50 Er verweist an dieser Stelle auf das OLG Karlsruhe,51 welches klargestellt hat, dass diese Vorgehensweise insbesondere dem Rechtsschutzziel des Antragstellers diene. Damit betont der BGH die subjektive Auslegung des Rechtsschutzbedürfnisses i.S.d. § 485 Abs. 2 ZPO.52 Denn die Aufforderung zur zweckdienlichen Umformulierung der Beweisfragen durch die Gerichte zeigt, dass es ein Anliegen des BGH ist, die Umsetzung der Intention des § 485 Abs. 2 ZPO insbesondere im Interesse der streitbeteiligten Parteien zu fördern.
Das OLG Rostock53 bestätigt aktuell und zutreffend patientenfreundliche Substantiierungserleichterungen im OH-Verfahren, und weist zutreffend darauf hin, dass das Verbot des
Ausforschungsbeweises mit Blick auf § 487 Nr. 2 ZPO einen absoluten Ausnahmecharakter habe. Die beantragten Beweisfragen des antragstellenden Patienten seien mit Blick auf die geringen
Anforderungen an die Substantiierung stets wohlwollend im Zusammenhang mit den übrigen Beweisfragen und im Zusammenhang mit der gesamten Antragsbegründung zu bewerten; der antragstellende Patient
müsse nicht einmal den Inhalt der schriftlichen Aufklärung vortragen, eine blosse Bezugnahme in der Beweisfrage auf den Aufklärungsbogen reiche insoweit aus.
IV. Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde zum BGH bezüglich zweier Beweisfragen
Zu bedauern bleibt, dass die Teilbeweisfragen zu 13 a und c (vgl. Fn. 16 und 17) vom OLG Karlsruhe nicht zur Rechtsbeschwerde zugelassen wurden. Schon die vom OLG Karlsruhe vorgebrachte Begründung, dass die zurückgewiesenen Beweisfragen sich aus sich selbst heraus beantworten würden, verfängt nicht. Das Gericht hat im Arzthaftungsrecht von Amts wegen immer dann einen Sachverständigen zu beauftragen (§ 144 Abs. 1 S. 1 ZPO), wenn die Beantwortung der entscheidungserheblichen Tatfragen spezielle Sachkunde voraussetzt.54 Da die Beweisfragen zu 13 a und c explizit nach einer medizinischen und nicht juristischen Beurteilung der Aufklärungsdokumentation (vgl. „aus medizinischer Sicht“) fragen und die in den Beweisfragen genannten Risiken und Alternativen zudem gerade nicht abschließend aufgezählt wurden („insbesondere“), handelt es sich jedoch offenkundig um medizinische Fragestellungen, die vom Richter oder gar Antragsteller als medizinische Laien gerade nicht beantwortet werden können.
Es ist hiervon unbenommen schon im Ausgangspunkt nicht ersichtlich, wieso die Beweisfragen zu 13 a bis d im vorangegangenen Verfahren überhaupt in unterschiedliche Frageblöcke aufgespalten werden mussten. Denn letztlich bildet die Beweisfrage zu 13 a bis d einen einheitlichen Fragenkomplex, der Inhalt und Umfang der streitgegenständlichen Aufklärungspflicht (inklusive der ärztlichen Aufklärungsdokumentation) betrifft und als Ganzes einer höchstrichterlichen Entscheidung hätte zugänglich gemacht werden müssen.
Gerade die nicht zugelassenen Beweisfragen zu 13 a und c sind jedoch ohnehin mit entsprechend ähnlichem Inhalt bereits in den Jahren 2016, 2017 und 2018 vom OLG Rostock, vom OLG Nürnberg sowie vom OLG Hamburg zugelassen worden.55 Erneut bestätigte das OLG Rostock mit seiner Entscheidung vom 18.08.202056 die Zulässigkeit dieser Teilfragen zur gutachterlichen Bewertung der ärztlichen Aufklärungsdokumentation.
V. Fazit
Der BGH bestätigt im Ergebnis folgende Rechtssätze:
1. Beweisfragen zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht können Gegenstand eines selbstständigen Beweisverfahrens (§ 485 Abs. 2 ZPO) sein. Fragen an den medizinischen Sachverständigen zur ärztlichen Aufklärungspflicht betreffen die Ursache eines Personenschadens (§ 485 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO), weil es für die Haftung wegen eines Aufklärungsmangels nicht genügt, dass aufgrund der fehlerhaften Aufklärung keine wirksame Einwilligung vorliegt, sondern hinzukommen muss, dass die einwilligungsfehlerhafte Heilbehandlung für den behaupteten Gesundheitsschaden ursächlich geworden ist.
2. Die Rechtsfragen, welcher Aufklärung es im konkreten Fall bedurfte (insbesondere welche konkreten Risiken und Alternativen bei der streitgegenständlichen Behandlung bestehen), und ob ein für den geltend gemachten Personenschaden relevanter Aufklärungsmangel in Betracht kommt, kann grundsätzlich nicht ohne die Beurteilung des medizinischen Sachverhalts durch einen Sachverständigen beantwortet werden.
3. Die Feststellungen des Sachverständigen zu dem aus medizinischer Sicht erforderlichen Inhalt der ärztlichen Aufklärung können der Vermeidung eines Rechtsstreits (§ 485 Abs. 2 S. 2 ZPO) dienen. Denn steht aufgrund des im selbstständigen Beweisverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens fest, welche Risiken bzw. Behandlungsalternativen aus medizinischer Sicht hinsichtlich der streitgegenständlichen Heilbehandlung bestanden, können die Parteien (die regelmäßig eigene Kenntnisse oder Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich des Inhalts des tatsächlich geführten Aufklärungsgespräches haben) beurteilen, ob und inwieweit Ansprüche wegen Aufklärungsfehlern weiterverfolgt werden bzw. ob insoweit eine vergleichsweise außergerichtliche Regelung in Betracht kommt.
4. Die mit dem selbstständigen Beweisverfahren angestrebte Klärung medizinischer Fragen zur ärztlichen Aufklärungspflicht können die Gerichte von Prozessen entlasten und die Parteien unter Vermeidung eines Rechtsstreits zu einer raschen und kostensparenden Einigung bringen.
5. Die Frage der Zweckmäßigkeit eines selbstständigen Beweisverfahrens, die im Einzelfall durchaus zweifelhaft sein mag, aber vom Antragsteller in eigener Verantwortung beurteilt werden muss, darf nicht mit der Frage seiner Zulässigkeit, über die das Gericht zu entscheiden hat, vermengt werden. Es ist prozessökonomisch von Vorteil, wenn eine gleichzeitige Klärung des medizinischen Sachverhalts im Hinblick auf (einerseits) Behandlungsfehler und (andererseits) ärztliche Aufklärungsfehler erfolgt.
6. Der Antragsteller darf es in seiner Antragsschrift dem Gericht überlassen, ob es bestimmte – vom Antragsteller bereits formulierte – Erläuterungen für den Sachverständigen zur Präzisierung der vom Antragsteller gewünschten Feststellungen und zur Leitung der Tätigkeit des Sachverständigen (§§ 492 Abs. 1, 404a Abs. 1 ZPO) für erforderlich hält.
7. Es steht dem Gericht frei, innerhalb der Grenzen des vom Antragsteller vorgegebenen Beweisthemas, unklare oder missverständliche Formulierungen des Antragstellers im Beweisbeschluss klarzustellen oder die vom Antragsteller formulierten Beweisfragen aufgrund von Ausführungen des Antragstellers in seiner Begründung zu konkretisieren oder zu ergänzen.
VI. Auswirkungen für die Praxis
Die hier besprochene BGH-Entscheidung kann durchaus als „Meilenstein“ für das Arzthaftungsbeweisverfahren bezeichnet werden. Sowohl mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des BGH zu § 485 Abs. 2 ZPO57 als auch in Anbetracht der sich an der Prozessökonomie orientierenden Gesetzes-Intention des § 485 Abs. 2 ZPO – nämlich die Parteien unter Vermeidung eines Rechtsstreits und Entlastung der Gerichte zu einer raschen und kostensparenden Einigung zu bringen58 –, ist die Positionierung des BGH in seinem aktuellen Beschluss vom 19.5.2020 hinsichtlich der Zulässigkeit von Aufklärungsfehlerfragen im selbstständigen Beweisverfahren konsequent und richtig. Denn für die Zulässigkeit eines selbstständigen Beweisverfahrens genügt – so auch Spickhoff59 – Streit über die Frage, ob die Behandlung oder die Aufklärung vom geschuldeten medizinischen Standard abweicht und als Ursache des Gesundheitsschadens der Antragstellerpartei in Betracht kommt.
Der Antragsteller darf es in seiner Antragsschrift nun dem Gericht überlassen, ob es bestimmte – vom Antragsteller bereits formulierte – Erläuterungen für den Sachverständigen zur Präzisierung der vom Antragsteller gewünschten Feststellungen und zur Leitung der Tätigkeit des Sachverständigen (§§ 492 Abs. 1, 404a Abs. 1 ZPO) für erforderlich hält. In Übereinstimmung mit auf der Heiden60 dürfte es für Patientenanwälte mithin zweckmäßig sein, dem Gericht im OH-Verfahren ein solches Ermessen ausdrücklich einzuräumen.
Es steht dem Gericht laut BGH nunmehr sogar frei, innerhalb der Grenzen des durch den Antragsschriftsatz vorgegebenen Beweisthemas, unklare oder missverständliche Formulierungen des Antragstellers im Beweisbeschluss klarzustellen oder auf Grundlage der Ausführungen des Antragstellers in seiner Begründung zu konkretisieren oder zu ergänzen.
Zutreffend postuliert auf der Heiden61 weiter, dass in aller Regel ein rechtliches Interesse des Antragstellers i.S.d. § 485 Abs. 2 ZPO zu bejahen sei und deshalb im Zweifel von der Zulässigkeit des selbstständigen Beweisverfahrens auszugehen sei, da ansonsten der Normzweck des § 485 Abs. 2 ZPO konterkariert werde.
Auf der Heiden ist ferner der zutreffenden Auffassung, dass sich aus dem aktuellen BGH-Beschluss vom 19.5.2020 für alle Rechtsmaterien, in denen selbstständige Beweisverfahren in Betracht kämen, allgemeine Grundsätze ableiten ließen. Dies dürfte vor allem auch für das Personenversicherungsrecht gelten, da es dort meist ebenso um den Zustand einer Person oder um die Ursache eines Personenschadens i.S.d. § 485 Abs. 2 geht.62
Angesichts der „deutlichen Worte“ des BGH in seiner aktuellen Entscheidung vom 19.5.2020 dürfte nunmehr eine bundesweit einheitliche Rechtsanwendungspraxis der Instanzgerichte hinsichtlich der Zulassung von Behandlungs, Aufklärungs, und Dokumentationsfragen63 im selbstständigen Beweisverfahren zu erwarten sein. Jedenfalls eine restriktive Auslegung des Terminus „rechtliches Interesses“ erscheint nun endgültig nicht haltbar. Somit wird die Patientenseite künftig nicht mehr „gezwungenermaßen“ vor dem Dilemma stehen, während des laufenden selbstständigen Arzthaftungsbeweisverfahrens allein aus Verjährungsgründen aufgrund der Nichtzulassung der Aufklärungsfragen parallel eine Arzthaftungsklage erheben und sodann Gefahr laufen zu müssen, dass das Gericht das selbstständige Beweisverfahren nachträglich von Amts wegen „einstellt“.64
Wünschenswert wäre ferner die Herbeiführung einer höchstrichterlichen Klärung der noch immer strittigen und äußerst praxisrelevanten Rechtsfrage der richterlichen Beiziehung65 von ärztlichen Behandlungsunterlagen im Rahmen eines medizinschadensrechtlichen selbstständigen Beweisverfahrens.66 Laut Kratz67 seien die §§ 142, 144 ZPO allgemeine Vorschriften (im Buch 1 der ZPO), die deshalb für alle Verfahrensarten der ZPO gelten. Dass diese Bestimmungen im ersten Titel des dritten Abschnitt der ZPO die mündliche Verhandlung „vor dem erkennenden Gericht“ betreffen, spreche nicht gegen ihre zumindest entsprechende Anwendung, wenn auch das selbstständige Beweisverfahren eine streitige Verhandlung nicht vorsieht. Auch die Hinweispflicht des Gerichtes nach § 139 ZPO68, die Möglichkeit der Verfahrensverbindung nach § 147 ZPO oder die Protokollierung einer Zeugenaussage (§ 160 ZPO) seien unter diesem Titel normiert, ohne dass ihre Anwendbarkeit im selbstständigen Beweisverfahren zweifelhaft wäre. Gerade in Arzthaftungssachen sei – so Kratz – die Erstellung von Gutachten in der Regel sogar nur nach Einsicht in die Behandlungsunterlagen in einer Weise möglich, die einen Hauptsacheprozess zu vermeiden hilft. Dem Gericht hier die Befugnis bzw. sein Ermessen69 zu verwehren, von dem Antragsgegner (Arzt) die Vorlage der Behandlungsunterlagen zu verlangen, sei nicht sinnvoll. Es bleibt abzuwarten, ob hier künftig – gerade in Anbetracht des aktuellen BGH-Beschlusses vom 19.5.2020 – eine Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen wird, sofern sich bei den ablehnenden Instanzgerichten aufgrund der „deutlichen Worte“ des BGH in seiner vorstehenden Entscheidung insoweit nicht ohnehin ein „Umdenken“ einstellen und sich damit ein Rechtsprechungswandel vollziehen wird.
Fußnoten
* Michael Graf ist Fachanwalt für Medizinrecht und Versicherungsrecht, Gabriela Johannes ist Rechtsanwältin im Medizinrecht und Versicherungsrecht, Noreen Schwuchow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die Autoren sind tätig bei den Michael Graf Patientenanwälten in Freiburg im Breisgau.
1 BGH v. 19.5.2020 – VI ZB 51/19, BeckRS 2020, 13599; BGH v. 6.7.2020 – VI ZB 27/19.
2 Vgl. BGH v. 21.1.2003 – VI ZB 51/02, VersR 2003, 794: Ein rechtliches Interesse an der Durchführung des selbstständigen Beweisverfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO kann bei Arzthaftungsansprüchen nicht aus grundsätzlichen Erwägungen ohne Prüfung der Umstände des Einzelfalls verneint werden.
3 Vgl. BGH v. 24.9.2013 – VI ZB 12/13, VersR 2014, 264: Ein rechtliches Interesse an einer vorprozessualen Klärung der haftungsrechtlich maßgeblichen Gründe für einen Gesundheitsschaden durch einen Sachverständigen kann im selbständigen Beweisverfahren auch dann gegeben sein, wenn zwar die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann, jedoch für eine abschließende Klärung weitere Aufklärungen erforderlich erscheinen.
4 LG Köln v. 29.1.2019 – 25 OH 6/18; LG Frankfurt/M. v. 4.9.2018 – 2-04 OH 5/18; LG Hamburg v. 5.4.2018 – 303 OH 4/17; LG Stralsund v. 10.7.2018 – 7a OH 2/18; LG Freiburg v. 16.4.2018 – 11 OH 17/17.
5 Vgl. OLG Hamm v. 9.7.2019 – 26 W 8/19; OLG Köln v. 16.8.2019 – 5 W 24/19; OLG Köln v. 15.5.2019 – 5 W 5/19; OLG Rostock v. 1.10.2018 – 5 W 32/18, VersR 2019, 640 m. Anm. Graf, VersR 2019, 596; OLG Nürnberg v. 14.3.2017 – 5 W 1043/16, VersR 2017, 969; OLG Hamburg v. 11.10.2016 – 1 W 68/16, VersR 2017, 967.
6 Zu den Gegenstimmen vgl. ausführlich: Graf, VersR 2019, 596 (600): Zu nennen sind OLG Karlsruhe v. 3.12.2018 – 13 W 103/18 (vgl. hierzu kritisch: Anm. Bomke, VersR 2019, 635) und OLG Stuttgart v. 30.3.2015 – 1 W 11/15.
7 Gegenstimme: Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl. 2014, Rz. B 522; vermittelnd bis kritisch: Katzenmeier, LMK 2014, 355655; Laux in BeckOF/Prozess, Form. 14.1.4 Anm. 3; Jorzig in BeckOF/Medizinrecht, Form. 2.1.2013 Anm. 4 f.
8 Befürwortend: vgl. Terbille/Feifel in Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht (MAH MedR), 3. Aufl., § 1 Zivilrechtliche Arzthaftung Rz. 196; Walter in Jorzig, Handbuch Arzthaftungsrecht, 1. Aufl. 2018, III., Rz. 14; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, 6. Aufl. 2017, Rz. 258; Spickhoff in Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, Kap. 80, Rz. 17 f.; vgl. auch Spickhoff, NJW 2018, 1725 (1730); sowie vertieft Graf/Werner, VersR 2017, 913; Graf, VersR 2019, 596; und Graf/Johannes, VersR 2019, 1054; sowie Bomke, VersR 2019, 635.
9 Ausführlich zur Anwendungspraxis der Befürworter: Graf/Johannes, MedR 2020, 26; Graf/Johannes, VersR 2019, 1054; Bomke, VersR 2019, 635; Graf, VersR 2019, 596 (600); Graf, VersR 2018, 393; Graf/Werner, VersR 2017, 913.
10 Womöglich spielte bei so manch einer gerichtlichen OH-Entscheidung dann auch der bedauerliche Umstand ein Rolle, dass ein selbstständiges Beweisverfahren für die betroffene Kammer dadurch einen „lästigen“ Mehraufwand bedeutete, dass die jeweilige OH-Sache bei der turnusmäßigen Vergabe neuer Verfahren innerhalb eines Landgerichts weniger gewichtet wird, sprich der damit einhergehende Arbeitsaufwand der Kammer zur ohnehin schon bestehenden Belastung noch hinzutritt. So sieht bspw. der Geschäftsverteilungsplan 2020 des Landgerichts Freiburg in Punkt E. I. 3. a) vor, dass bei OH-Sachen nach jeder dritten neu eingehenden Sache der Kammer ein zusätzliches Verfahren mit dieser Wertigkeit in einem Zwischenturnus zugeteilt wird. Der ein oder andere zuständige Richter wird hier vor die (sicherlich auch emotionale) Herausforderung gestellt, diese (jedenfalls in Arzthaftungssachen) "unfaire" Geschäftsverteilung nicht der Antragstellerseite „anzulasten“.
11 BGH v. 19.5.2020 – VI ZB 51/19, BeckRS 2020, 13599; BGH v. 6.7.2020 – VI ZB 27/19.
12 OLG Rostock v. 18.8.2020 – 5 W 107/18.
13 LG Bonn v. 29.4.2020 – 9 OH 13/19, BeckRS 2020, 9310: „Weist die Dokumentation der Antragsgegner zur Anästhesie vom 10.1.2019 oder für die neurologische und HNO-ärztliche Behandlung in ihrem Haus in der Zeit danach Lücken oder Auslassungen aus, die vom medizinischen Standpunkt aus nicht verständlich sind? Falls ja: a) Welche weiteren Befunde vermisst der Sachverständige in der Behandlungsdokumentation der Antragsgegner? (...)“.
14 OLG Köln v. 15.5.2019 – 5 W 5/19, BeckRS 2019, 10100: „Weist die Behandlungsdokumentation der Antragsgegnerin aus medizinischer Sicht hinsichtlich des operativen Eingriffs vom 7.12.2015 und/oder der präoperativen Diagnostik Widersprüchlichkeiten und/oder Unvollständigkeiten auf?“.
15 BGH v. 19.5.2020 – VI ZB 51/19, BeckRS 2020, 13599.
16 Die Beweisfrage 13 a lautete: „Beschreibt die schriftliche Aufklärungsdokumentation aus dem Hause der Antragsgegnerin zu 1) bzgl. der dorsalen transpedikuläre Stabilisierung am 18.7.2013, der Revisionsoperation am 23.7.2013 und bzgl. der anschließenden Reposition der Außenknöchelfraktur am 23.7.2013 – wie sie sich dokumentiert (1) durch das Formular “Einwilligung in eine operative Maßnahme – instabile Fraktur LWK1“ vom 17.7.2013 (Aufklärungsarzt: Dr. K.), (2) durch das Formular „Einwilligung in eine operative Maßnahme – instabile Fraktur LWK1“ vom 22.7.2013 (Aufklärungsarzt: D.), und (3) durch das proCompliance-Formular „OP bei Verletzung des Sprunggelenks“ vom 22.7.2013 (Aufklärungsarzt: D.), bei den medizinischen Behandlungsunterlagen befindet – die konkrete streitgegenständliche Behandlung hinsichtlich ihrer Chancen und hinsichtlich der im vorliegenden Fall konkret verwirklichten Risiken, insbesondere hinsichtlich der Gefäß-Nervenverletzung, der Bewegungseinschränkung, der Peronaeusparese bzw. Lähmungserscheinungen, der Dorsalverlagerung der Hinterkante des LWK1, der Hüftbeugeschwäche, der Beinstreckschwäche, der Lumboischialgie, der Neurologische Störungen, der Schmerzen an der Knochenspan-Entnahmestelle, sowie hinsichtlich der Pseudarthrose, aus medizinischer Sicht zutreffend und erschöpfend?“.
17 Die Beweisfrage 13 c lautete: „Beschreibt die schriftliche Aufklärungsdokumentation aus dem Hause der Antragsgegnerin zu 1) bzgl. der dorsalen transpedikuläre Stabilisierung am 18.7.2013, der Revisionsoperation am 23.7.2013 und bzgl. der anschließenden Reposition der Außenknöchelfraktur am 23.7.2013 – wie sie sich dokumentiert durch (1) das Formular “Einwilligung in eine operative Maßnahme – instabile Fraktur LWK1“ vom 17.7.2013 (Aufklärungsarzt: Dr. K.), (2) das Formular“Einwilligung in eine operative Maßnahme – instabile Fraktur LWK1“ vom 22.7.2013 (Aufklärungsarzt: D.), und (3) durch das proCompliance-Formular „OP bei Verletzung des Sprunggelenks“ vom 22.7.2013 (Aufklärungsarzt: D.), bei den medizinischen Behandlungsunterlagen befindet – die konkrete streitgegenständliche Behandlung bezüglich echter Behandlungsalternativen wie insbesondere anderer Operationsverfahren (Spondylodese), sowie einer konservative Behandlung (intensive physiotherapeutische Behandlung mit begleitender Medikation) aus medizinischer Sicht zutreffend und erschöpfend?“.
18 OLG Karlsruhe v. 8.7.2019 – 13 W 23/19.
19 OLG Karlsruhe v. 5.4.2019 – 13 W 17/19.
20 Zum Streit aktuell: Süß, MedR 2020, 111; befürwortend aktuell auch Spickhoff, NJW 2020, 1720 (... genügt Streit über die Frage, ob die Behandlung oder die Aufklärung vom geschuldeten medizinischen Standard abweicht und als Ursache der gesundheitlichen Folgen in Betracht kommt).
21 Ursache in diesem Sinne kann jedes Geschehen, auch ein nur teilweise, mittelbar oder zusammen mit anderen wirkendes sein, vgl. Schreiber in MünchKomm/ZPO, 5. Aufl. 2016, Rz. 19, ZPO § 485 Rz. 19.
22 Bei Verletzung einer Person können in einem selbständigen Beweisverfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO jedenfalls der Zustand dieser Person, die dafür maßgeblichen Gründe und die Wege zur Beseitigung des Schadens festgestellt werden, auch wenn damit die entscheidenden rechtlichen Fragen wie Verschulden des Arztes und Kausalität der Verletzung für den Schaden möglicherweise noch nicht geklärt sind (Berger in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2015, § 485 Rz. 24).
23 Laumen, MedR 2015, 12 (15).
24 Schreiber in MünchKomm/ZPO, 5. Aufl. 2016, § 485 Rz. 14.
25 BGH v. 24.9.2013 – VI ZB 12/13, VersR 2014, 264.
26 BGH v. 21.1.2003 – VI ZB 51/02, VersR 2003, 794.
27 Wobei erwähnt werden muss, dass auch im selbständigen Beweisverfahren die vertiefende mündliche Anhörung des Sachverständigen im Gerichtstermin möglich und statthaft ist, so dass das Gericht und die Parteien auch dadurch weitere Klärung der strittigen medizinischen Umstände und Haftungsfragen herbeiführen können. Auch für diese Anhörung des Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens im selbstständigen Beweisverfahren ist es nicht erforderlich, dass diejenige Partei, die die Anhörung beantragt, im Vorfeld schriftliche Fragen formuliert, die sie an den Sachverständigen zu richten beabsichtigt. Es genügt, wenn sie allgemein angibt, in welche Richtung sie durch ihre Fragen eine weitere Aufklärung herbeizuführen wünscht, vgl. aktuell OLG Hamm v. 4.8.2020 – I-26 W 11/20 = BeckRS 2020, 19802; OLG Köln v. 18.11.2019 – 5 W 33/19, BeckRS 2019, 32197.
28 Graf, VersR 2019, 596 (598).
29 Nach dem Zweck der Vorschrift empfiehlt sich gerade hier eine weite Auslegung. Daher ist die Eignung zur Vermeidung eines Rechtsstreits nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Antragsgegner eine gütliche Einigung ablehnt, zumal das Ergebnis der Begutachtung auch dazu führen kann, dass der Antragsteller von der Hauptsacheklage absieht (Berger in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2015, Rz. 38, § 485 Rz. 38).
30 Vgl. hierzu nochmals Fußnote 10.
31 Graf/Johannes, MedR 2020, 26 (31).
32 Dieses Argument spielt gerade auch im Rechtsschutzversicherungsrecht eine Rolle, da der Rechtsschutzversicherer (auch deswegen) grds. Kostenschutz für die Rechtsverfolgung von Arzthaftungsansprüchen mittels selbständigem Beweisverfahren erteilen muss (Graf/Schoenaich VersR 2017, 1505), selbst wenn diese Ansprüche in der Antragsschrift lückenhaft dargelegt werden und sie auf Vermutungen des geschädigten Patienten basieren (Langheid/Wandt, Münchener Kommentar zum VVG, 2. Auflage 20172. Teil. Systematische Darstellungen 3. Kapitel. Versicherungssparten 600. Rechtsschutzversicherung Rn. 364); vgl. hierzu auch Fußnote 40 und 41, sowie die Fußnoten 50 und 54.
33 Denn die Patientenseite würde bei Nichtzulassung von Aufklärungsfehlern im OH-Verfahren aufgrund der drohenden Verjährung seiner hieraus resultierenden Ansprüche zur Hauptsacheklage „gezwungen“. Die hieraus entstehende untragbare Verfahrenskonstellation eines bereits anhängigen selbständigen Beweisverfahren und nachträglich angehängten Hauptsacheverfahren birgt die Gefahr einer nachträglichen Einstellung des OH-Verfahrens durch das Gericht, so dass der Patientenanwalt geneigt sein wird, die Hauptsacheklage isoliert nur bezüglich der nichtzugelassenen Aufklärungsfehler zu erheben und damit einen einheitlichen Lebenssachverhalt künstlich „auseinanderzureißen“, was dem Sinn und Zweck der dem § 485 Abs. 2 ZPO zugrunde liegenden Gedanken der Prozessökonomie diametral zuwider laufen würde, vgl. zum Ganzen Graf/Johannes, VersR 2019, 1054 und Graf/Johannes, MedR 2020, 26 (31).
34 Vgl. BGH v. 21.1.2003 – VI ZB 51/02, BGHZ 153, 302 = VersR 2003, 794.
35 Vgl. hierzu auch Graf/Werner, VersR 2017, 913 (919) mit Verweis auf Stegers, Sachverständigenbeweis im Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., Rz. 779.
36 Soll heißen, dass das Gericht beantragte Beweisfragen in Hinblick auf ihre Zweckmäßigkeit infrage zu stellen und zurückzuweisen; vgl. hierzu Fußnote 10.
37 Das Gesetz spricht in § 487 ZPO insoweit von der „Bezeichnung der Tatsachen, über die Beweis erhoben werden soll“.
38 BGH v. 10.11.2015 – VI ZB 11/15, VersR 2017, 59.
39 Graf, VersR 2019, 596 (600) mit Verweis auf Krause, jurisPR-MedizinR 5/2016 Anm. 2.
40 Dem klagenden Patienten obliegt lediglich eine reduzierte Darlegungs- und Substantiierungspflicht, d.h. es dürfen nur maßvolle Anforderungen an ihn gestellt werden, da ihm regelmäßig die nötige medizinische Sachkunde zur Erfassung und Darstellung des medizinischen Sachverhalts sowie Fehlervorwurfs nicht abverlangt werden darf, vgl. Scholz, VersR 2016, 625 unter Hinweis auf BGH v. 2.12.1980 – VI ZR 175/78, VersR 1981, 278; BGH v. 10.11.1981 – VI ZR 92/80, VersR 1982, 168; OLG Brandenburg v. 11.7.2001 – 1 U 4/01, zfs 2002, 13; vgl. auch OLG Zweibrücken v. 14.9.2010 – 5 U 18/09, NJW-RR 2011, 534.
41 OLG Naumburg v. 25.2.2016 – 1 W 46/15, VersR 2017, 443.
42 OLG Rostock v. 18.8.2020 – 5 W 107/18.
43 Vgl. hierzu aktuell OLG Rostock v. 18.8.2020 – 5 W 107/18, sowie Graf/Werner, VersR 2017, 913 (918).
44 Anders als beim Beweisantritt im Strengbeweisverfahren ist die Substantiierungslast im selbständigen Beweisverfahren abgemildert (Berger in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2015, § 487 Rz. 3). So auch Huber: Zu berücksichtigen sei auch, dass der Normzweck der Prozessvermeidung schon dann verwirklicht wird, wenn der Antragsteller nach dem Ergebnis des selbständigen Beweisverfahrens von einem Rechtsstreit absieht (Musielak/Voit/Huber, ZPO, 17. Aufl. 2020, § 487 Rz. 3).
45 Im Ausgangspunkt muss der Antragsteller gem. § 487 Nr. 2 ZPO zwar eine bestimmte zu beweisende Tatsache oder einen bestimmten festzustellenden Zustand behaupten; denn auch im selbstständigen Beweisverfahren ist der Ausforschungsbeweis im Grundsatz unzulässig. Allerdings sind an die Substantiierung des Beweisthemas keine hohen Anforderungen zu stellen (vgl. auch OLG Rostock v. 18.8.2020 – 5 W 107/18), eben weil das selbstständige Beweisverfahren gerade auch der Feststellung bislang für jedermann unbekannter (zumindest nicht genau bekannter oder nur vermuteter) Tatsachen dient. Zu nennen sind hier die Feststellungen des Zustandes einer Person oder des Zustandes oder Wertes einer Sache sowie der Ursache für einen Schaden oder einen Mangel. Es wäre eine sinnlose Förmelei, von dem Antragsteller zu verlangen, dass er für die Zulässigkeit seines Antrages irgendeinen Zustand oder irgendeine Ursache behaupten müsse und sich damit auf den ersichtlich unzutreffenden Standpunkt stellen müsste, die erst noch zu ermittelnden Tatsachen schon zu kennen. Einer „schlüssigen Beweisbehauptung“ bedarf es im selbstständigen Beweisverfahren somit nicht. Deshalb können solche erst noch festzustellenden Tatsachen auch in Frageform formuliert werden. Der Antrag bzw. die Beweisfragen muss bzw. müssen einen tatsächlichen Kern aufweisen, vgl. zum Ganzen: Kratz in BeckOK/ZPO, 37. Ed., 1.7.2020, § 487 Rz. 3.
46 Schreiber in MünchKomm/ZPO, 5. Aufl. 2016, § 487 Rz. 4.
47 OLG Rostock v. 18.8.2020 – 5 W 107/18
48 Vgl. u.a. OLG Naumburg v. v. 25.2.2016 – 1 W 46/15, VersR 2017, 443; OLG Köln v. 7.8.2002 – 5 W 98/02, VersR 2003, 375.
49 Vgl. auch BGH v. 28.5.2019 – VI ZR 328/18, VersR 2020, 317: Von einem Kl., der Schadensersatz wegen Verletzung seines Körpers oder seiner Gesundheit verlangt, kann keine genaue Kenntnis medizinischer Zusammenhänge erwartet und gefordert werden. Ihm fehlt insoweit das nötige Fachwissen. Er ist nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen.
50 Greiner weist explizit darauf hin, dass im Arzthaftungsrecht das Gericht zur Wahrung der „Waffengleichheit“ sogar aktiv die unterlegene Patientenseite zu unterstützen hat, vgl. Greiner in Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, E. Prozessuale Grundsätze Rz. 1; vgl. auch Graf/Werner, VersR 2017, 913. (Anmerkung: Diese Unterstützungspflicht des Gerichts betrifft jedoch nicht die Frage der Passivlegitimation. Für den Rechtsanwalt, der den Patienten vertritt, ist es daher essenziell, genau zu prüfen, welche Partei er verklagt. Wenn zunächst die falsche Partei verklagt wurde und die Ansprüche gegen den „richtigen“ Gegner zwischenzeitlich verjährt sind, besteht ein nicht unerhebliches Risiko dahin, dass der verklagende Rechtsanwalt später selbst in Regress genommen wird, vgl. MAH, MedR, 3. Aufl., § 1 Zivilrechtliche Arzthaftung Rz. 58).
51 OLG Karlsruhe v. 2.2.2017 – 9 W 57/16, BeckRS 2017, 111877.
52 Graf/Johannes, VersR 2019, 1054 (1060); Graf/Johannes, MedR 2020, 26 (29).
53 OLG Rostock v. 18.8.2020 – 5 W 107/18
54 Wenngleich die Ermittlung des Sachverhalts und damit des Facharztstandards allein dem Gericht obliegt, so darf es diese Feststellungen nicht ohne eine medizinisch-sachverständige Beratung treffen, weder für die Frage des Behandlungsfehlers noch für die der Aufklärungspflichtverletzung. Der BGH hat unmissverständlich klargestellt, dass vom erkennenden Gericht eine entsprechende medizinische Fachkunde nicht erwartet werden kann, so dass die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens im Arzthaftungsprozess grundsätzlich zwingend ist, vgl. Scholz, VersR 2016, 625 unter Hinweis auf BGH v. 24.2.2015 – VI ZR 106/13, VersR 2015, 712, sowie auf BGH v. 4.3.1980 – VI ZR 6/79, VersR 1980, 533; BGH v. 24.6.1980 – VI ZR 7/79, VersR 1980, 940; BGH v. 21.10.1986 _ VI ZR 15/85 VersR 1987, 310; BGH v. 28.4.1998 – VI ZR 403/96, VersR 1998, 853; BGH v. 30.11.2010 – VI ZR 25/09, VersR 2011, 1158; BGH v. 6.2.2002 – IV ZR 106/01, VersR 2002, 480.
55 OLG Rostock v. 1.10.2018 – 5 W 32/18, VersR 2019, 640, vgl. dort Beweisfrage „L.“; OLG Nürnberg v. 14.3.2017 – 5 W 1043/16, VersR 2017, 969, vgl. dort Beweisfrage 8; OLG Hamburg v. 11.10.2016 – 1 W 68/16, VersR 2017, 967, vgl. dort Beweisfrage 13.
56 OLG Rostock v. 18.8.2020 – 5 W 107/18
57 Zu beachten ist, dass der BGH hier ausdrücklich (nur) die Zulässigkeit eines selbständigen Beweisverfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO beleuchtete. Dies ist nicht mit der Fallgruppe des § 485 Abs. 1 ZPO zu verwechseln. Hierzu aktuell: OLG Köln v. 19.12.2019 – 20 W 20/19, BeckRS 2019, 36671.
58 Ein gut geführtes selbständiges Beweisverfahren ist aus Sicht der Verfasser auch in komplexen Arzthaftungsfällen mit u.U. hohem Schadenswert sinnvoll und zweckmäßig, sofern es von der Antragstellerseite bereits mit der Antragsschrift sinnvoll aufbereitet wird (a.A. Laux, BeckOF/Prozess, Form. 14.1.4 Anm. 2).
59 Spickhoff, NJW 2020, 1720.
60 S. auf der Heiden, NJW 2020, 2273.
61 S. auf der Heiden, NJW 2020, 2273.
62 Vgl. ausführlich: Graf, VersR 2018, 393.
63 Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch der Beschl. des OLG Köln v. 15.5.2019 (5 W 4/19), in dem der Senat klarstellt, dass die Würdigung der ärztlichen Dokumentation im Hinblick auf Unstimmigkeiten und Unvollständigkeiten sinnvoller Bestandteil der Begutachtung und insofern im OH-Verfahren zuzulassen sind. Denn gerade die Frage nach Unstimmigkeiten und Lücken in der Dokumentation hänge eng mit der Klärung der tatsächlichen Abläufe und der Frage, ob diese Abläufe gegen fachärztlichen Standard verstoßen haben, zusammen. Ein auf Grundlage solcher Fragen erstelltes medizinisches Gutachten ermöglicht insofern den Beteiligten eine medizinisch fundierte Beurteilung der dokumentierten bzw. zu dokumentierenden Aufklärung im Einzelfall, wodurch sie Erkenntnisse für die Beurteilung der Vorgänge, über die sie jeweils aus eigenem Erinnerungsvermögen regelmäßig Kenntnis haben, gewinnen können. In diesem Sinne und im Zusammenhang mit dem im vorliegendem Beschluss nunmehr höchstrichterlich klargestellten Grundsatz, dass das OH-Verfahren in erster Linie den beteiligten Parteien als Entscheidungshilfe und als Grundlage für eine gütliche Einigung dienen soll, ist insofern davon auszugehen, dass der BGH auch die Fragen bzgl. der ärztlichen Dokumentation im selbständigen Beweisverfahren für zulässig erachtet.
64 Vgl. hierzu Graf/Johannes, VersR 2019, 1054 und Graf/Johannes, MedR 2020, 26 (31).
65 Vgl. hierzu aktuell Graf/Johannes/Schmidt-Troje, MedR 2020, 762. Laut Berger spricht mehr dafür, diese Anordnungen auf Beiziehung – nach gerichtlichem Ermessen – auch im selbständigen Beweisverfahren zuzulassen (Berger in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2015, § 492 Rz. 11).
66 Vgl. zum Ganzen: Graf/Johannes/Schmidt-Troje, MedR 2020, 762; Graf/Johannes, MedR 2020, 26; aktuell auch OLG Köln v. 20.4.2020 – 5 W 5/20, BeckRS 2020, 6876: Der Senat stellt hierzu fest, dass freilich ein richterliches Ermessen bestehe, ob im Arzthaftungsbeweisverfahren eine Urkundsbeiziehung der Behandlungsunterlagen erfolgt. Der Senat kommt auch zum Ergebnis, dass eine Beschwerdefähigkeit gegen die richterliche Ablehnung ausnahmsweise dann zu bejahen sei, wenn durch die getroffene Anordnung faktisch das Verfahren zum Stillstand gebracht wird (§ 252 ZPO direkt oder analog) oder die Grundrechte des Antragstellers verletzt werden; d.h. sollten die eigenen Beiziehungsversuche des Antragstellers über § 630g BGB scheitern, käme das etwaige Beharren des Gerichts im Beweisverfahren auf die Vorlage der Behandlungsunterlagen durch den Antragsteller im Zweifel tatsächlich einer Verweigerung von Rechtsschutz im Rahmen des selbständigen Beweisverfahrens gleich; für diesen Fall sei eine Beschwerde gegen die Anordnung analog § 252 ZPO statthaft, denn es wäre dem Antragsteller und Patienten nicht zuzumuten, zunächst einen – womöglich über mehrere Instanzen laufenden – Rechtsstreit um die Herausgabe der Unterlagen zu führen.
67 Kratz in BeckOK/ZPO, 37. Ed., 1.7.2020, § 485 Rz. 34.1.
68 Die richterliche Hinweispflicht nach § 139 ZPO findet im selbstständigen Beweisverfahren uneingeschränkt Anwendung, Kratz in BeckOK/ZPO, 37. Ed., 1.7.2020, § 485 Rz. 13.
69 Graf/Johannes/Schmidt-Troje, MedR 2020, 762.
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… Ihr Michael Graf, Fachanwalt für Medizinrecht und Versicherungsrecht