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Der Streitwert für das selbständige Beweisverfahren

 

Anmerkung zu OLG Karlsruhe, Beschl. vom 14.11.2022 (7 W 31/22)

 

Problemstellung:

 

Höchstrichterlich ungeklärt - und immer noch umstritten - ist die Frage der Streitwertbemessung des OH-Verfahrens bei sich später anschließendem bzw. beabsichtigtem Arzthaftungsklageverfahren. Hier wird von den Land- und Obergerichten zum einen vertreten, dass es auf den (früheren, meist niedrigeren) Wert der Arzthaftungsansprüche zum (früheren) Zeitpunkt der Einreichung der Antragsschrift im selbständigen Beweisverfahren ankomme. Zum anderen wird vertreten, dass es mit Blick auf das wirtschaftliche Interesse des geschädigten Patienten (§ 3 ZPO) auf den (späteren, meist höheren) Wert der Arzthaftungsansprüche im anschließenden oder beabsichtigten Hauptsacheprozess, d.h. auf die Bezifferung des Wertes der Schadensersatzansprüche aus der Arzthaftungsklageschrift, ankomme. Die Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 14.11.2022 zu 7 W 31/22 schließt sich der letztgenannten Ansicht an.

 

 

Der Zuständigkeits- und Gebührenstreitwert des selbständigen Beweisverfahrens1 gem. § 485 Abs. 2 ZPO richtet sich nach dem Interesse des Antragstellers (also des geschädigten Patienten) an der Durchführung des OH-Verfahrens, was gerade für die Anwaltschaft nicht unerhebliche Praxisrelevanz hat.2

 

Denn das selbständige Beweisverfahren gehört gebührenrechtlich nicht zum Rechtszug, ist selbständige Angelegenheit, so dass die Streitwertfestsetzung sowie die Gebührenabrechnung gesondert erfolgt; diese Selbständigkeit ändert aber nichts an der prozessualen Funktion des OH-Verfahrens als „Hauptsache“-Beweis, denn mit dessen Ergebnissen kann die Hauptsache „stehen und fallen“.3

 

Die überwiegende Meinung stellt daher bei der Streitwertbemessung darauf ab, dass für einen solchen vorgezogenen Hauptsachebeweis (§ 493 Abs. 1 ZPO) denknotwendigerweise auch der sog. „Hauptsachewert“ maßgebend sein muss. Dieser Auffassung schließt sich das OLG Karlsruhe im Beschl. vom 14.11.2022 (7 W 31/22) nun an.

 

Hierbei kommt es regelmäßig zunächst auf die vom Antragsteller bei Verfahrenseinleitung behaupteten Tatsachen, d.h. auf den von ihm verfolgten Anspruch, an. 

 

Ergibt sich im Verfahren, dass nicht alle vom Antragsteller vorgetragenen Tatsachen bestätigt werden, so ist in Bezug auf die nicht bestätigten Tatsachen das Interesse des Antragstellers vom Gericht gleichwohl zu berücksichtigen, zu schätzen und hinzuzurechnen.4

 

Das Gericht hat nach Einholung des Gutachtens im selbständigen Beweisverfahrens also den „richtigen“ Hauptsachewert, bezogen auf den Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung und das Interesse des Patienten, festzusetzen. Dies ist der Wert der Hauptsache oder des Teils der Hauptsache, auf den sich die Beweiserhebung bezieht.5

 

Dabei ist der vom Antragsteller bei Verfahrenseinleitung geschätzte Wert (§ 61 GKG) weder bindend noch maßgeblich, so dass auch über ihn hinausgegangen werden kann.6

 

So auch Heinrich7, der mit Blick auf § 493 Abs. 1 ZPO zutreffend feststellt, dass regelmäßig auf den zu schätzenden Hauptsachewert abzustellen sei, weil die Verwendung des Beweisergebnisses im folgenden Prozess einer Beweisaufnahme im Verfahren vor dem Prozessgericht gleichstehe.

 

Hierzu argumentiert Wöstmann8, dass stets nur der Hauptsachewert einschlägig sei, soweit der Gegenstand der Hauptsache (Anm. des Verfassers: wie in Arzthaftungssachen regelmäßig der Fall) vom selbständigen Beweisverfahren betroffen ist. Darauf, ob und ggf. inwieweit die Behauptungen des Beweisantragstellers in dem Verfahren bestätigt werden, komme es nicht an. 

 

Wöstmann9 stellt folgerichtig fest, dass - wenn der tatsächliche Hauptsachewert im Laufe des selbständigen Beweisverfahrens bekannt wird - dessen (meist höherer) Streitwert festzusetzen und gegebenenfalls eine bereits erfolgte Streitwertfestsetzung gem. § 63 Abs. 3 S. 1 GKG sogar abzuändern sei.

 

Wendtland10 bringt es auf den Punkt: Der Streitwert des Beweisverfahrens entspricht demjenigen der Hauptsache. Zudem ist dann auch der volle Wert zugrunde zu legen und nicht etwa ein Bruchteil des vollen Werts.11

 

Der Streitwert im Arzthaftungsprozess bestimmt sich nach den §§ 2–9 ZPO. Insoweit bestehen im Arzthaftungsprozess keine Besonderheiten. Sofern der klagende Patient die Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes in das Ermessen des Gerichts stellt, ist der Streitwert gem. § 3 ZPO zu schätzen. Allerdings wird er durch die Angaben des Klägers hinsichtlich der Höhe der geltend gemachten Schmerzensgeldforderung nach oben oder unten begrenzt. Zu beachten ist, dass sich der Streitwert wegen des in der Regel zu stellenden Feststellungsantrages entsprechend erhöht. Der Wert einer positiven Feststellungsklage liegt regelmäßig 20 % unter dem Wert einer Leistungsklage. Bei Feststellung einer künftigen Leistungspflicht wird der Wert vom Maß der Wahrscheinlichkeit der künftigen Inanspruchnahme des Beklagten bestimmt12, wobei hier mit Blick auf § 3 ZPO (wirtschaftliches Interesse des klagenden Patienten) auch eine Kapitalisierung bzw. Kapitalabfindung nach § 843 Abs. 3 BGB geltend gemacht und bewertet werden kann.

 

Im Ergebnis ist dem OLG Karlsruhe im Beschl. vom 14.11.2022 (7 W 31/22) mithin zuzustimmen, denn als vorgezogener Hauptsachebeweis (§ 493 Abs. 1 ZPO) ist für das selbständige Beweisverfahren allein der Hauptsachewert bezogen auf den Zeitpunkt der Hauptsacheeinleitung maßgeblich. Dabei ist der bei Einleitung des selbständigen Beweisverfahrens vom Antragsteller geschätzte Wert weder bindend noch maßgeblich, so dass auch über ihn hinausgegangen werden kann und es also auf den (späteren, meist höheren) Wert der Arzthaftungsansprüche im anschließenden oder beabsichtigten Hauptsacheprozess, d.h. auf die Bezifferung des Wertes der Schadensersatzansprüche aus der eingereichten (oder bspw. in späteren Vergleichsverhandlungen angekündigten) Arzthaftungsklageschrift, ankommen muss.

 

Nachweise:

 

1 In der Praxis auch als “OH-Verfahren” bezeichnet.

2 OLG Nürnberg IBR 2003, 709; OLG München IBR 2003, 518; Ulbrich in Vorwerk, Das Prozessformularbuch, 12. Aufl. 2024, Kap. 7, Rn. 66 ff.

3 Herget in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024, § 3, Rn. 16.151.

4 OLG Celle v. 5.3.2008 – 14 W 6/08, IBR 2008, 248.

5 Herget in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024, § 3, Rn. 16.151.

6 OLG München BauR 2004, 707.

7 Musielak/Voit/Heinrich, 18. Aufl. 2021, ZPO § 3 Rn. 34.

8 MüKoZPO/Wöstmann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 3 Rn. 121.

9 MüKoZPO/Wöstmann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 3 Rn. 121.

10 BeckOK ZPO/Wendtland, 37. Ed. 1.7.2020, ZPO § 3 Rn. 31.

11 BGH MDR 2005, 162 = NJW 2004, 3488; OLG Braunschweig BauR 2000, 1907; Ulbrich in Vorwerk, Das Prozessformularbuch, 12. Aufl. 2024, Kap. 7, Rn. 66 ff.

12 Rehborn in Vorwerk, Das Prozessformularbuch, 12. Aufl. 2024, Kap. 80, Rn. 280.

 

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